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Jutta und Siegfried teilen alles, nur ihre Wohnung nicht.

Annegret und ihr Lebensgefährte Emanuel haben für sich die richtige Lebensform gefunden: “Meine Botschaft lautet: Frauen, zieht nicht mit eurem Partner zusammen”, sagt die 64-Jährige. Die Nürnbergerin weiß genau, wovon sie redet: Sie praktiziert die “Liebe auf Distanz” schon seit einiger Zeit erfolgreich.
Annegret und Emanuel sind keine Ausnahme. Immer mehr Paare entscheiden sich für eine Mischform aus Singleleben und Partnerschaft: Man hat getrennte Wohnungen, und zwar in erreichbarer Nähe, ist jedoch fest liiert. So wie Jutta und Siegfried: Er lebt unter der Woche in Nürnberg, sie ist in Erlangen daheim. Tisch und Bett teilt das Paar nur am Wochenende. Aus freien Stücken und seit zehn Jahren schon.
Der Trend ist kein rein deutsches Phänomen, deshalb hat er auch einen englischen Namen: “Living apart together” (“getrennt zusammen leben”), abgekürzt LAT. Deutsche LAT-Partnerschaften haben Studien der Berliner Humboldt-Universität zufolge in den zurückliegenden 20 Jahren um mehr als 70 Prozent zugenommen, berichtet die Berliner Psychologin Dr. Wiebke Neberich. “Wir haben mehr als 2000 Paare im Alter zwischen 18 und 67 Jahren befragt”, sagt die Psychologin, die maßgeblich an einem Pilotprojekt beteiligt war und heute als Beziehungsexpertin bei einer großen Onlinepartnervermittlung arbeitet. “Trotz des extremen Anstiegs ist der Anteil der LAT-Paare immer noch klein im Vergleich zu Paaren mit dem klassischen Lebensmodell”, schränkt Wiebke Neberich allerdings ein.
“Wir lieben auch unsere Freiheit”
Annegret ist klar, dass ihr Modell nicht dem Ideal entspricht, wonach man sich verliebt und dann zusammenzieht. “Aber einander so nah zu sein, kann schnell langweilig werden”, wendet sie ein. Vor allem bei Paaren jenseits der Vierzig ist “living apart together” beliebt. Wie viel Nähe und Distanz Glück braucht, ist von Paar zu Paar verschieden. “Problematisch wird es erst, wenn Partner unterschiedliche Bedürfnisse entwickeln. Der Wunsch nach Distanz heißt nicht automatisch, dass eine Beziehung schlecht läuft. Manche Menschen brauchen viel Raum. Für sich selbst, Hobbys, den Job”, erklärt Wiebke Neberich. Man müsse das Gleiche wollen, bestätigt Annegret. “Emanuel und ich lieben uns, aber wir lieben auch unser eigenes Leben und unsere Freiheit”, sagt die Sozialpädagogin in Altersteilzeit. “Wenn ich von Freundinnen höre, wie viele Stunden sie tagaus, tagein mit ihren Partnern zusammen sind, ohne etwas miteinander zu tun, außer vielleicht den einen oder anderen Halbsatz am Morgen und am Abend zu wechseln, kann ich uns nur gratulieren. Bei Emanuel und mir ist es viel spannender! Wenn wir uns sehen, lassen wir uns aufeinander ein. Dann wird erzählt, geplaudert, dann sind wir füreinander da. Wir begegnen uns ohne Alltagsmüdigkeit, was auch die körperliche Nähe prickelnder macht.”
Die trivialen Kleinigkeiten des Beziehungsalltags entfallen auch bei dem LAT-Paar Jutta und Siegfried. Offene Zahnpastatuben im Bad, herumliegende Socken, Streit über das Fernsehprogramm – das alles ist bei ihnen kein Thema. “Jedes Treffen ist ein Fest”, schwärmt die Mutter einer erwachsenen Tochter. “Ich bin ein gebranntes Kind. Mit Männern hatte ich viel Pech”, erzählt die Sparkassenangestellte, die jetzt in Rente ist. Ihr Lebensgefährte ist 58 Jahre alt und arbeitet als Maler. “Wir telefonieren jeden Abend. Wir erzählen uns unsere Sorgen und Probleme und haben keinerlei Geheimnisse voreinander”, erzählt sie. An den Wochenenden trifft sie ihren Partner, unter der Woche ist sie ihr eigener Herr: “Ich gehe gern aus: ins Theater und ins Musical, zum ‘Club vielseitig interessierter Frauen’, der sich wöchentlich trifft, und dann ist da noch der Stammtisch, wo ich mich alle 14 Tage mit fünf Frauen treffe. Nicht zu vergessen: Meine 86-jährige Mutter lebt allein! Kurzum: von Montag bis Freitag bin ich voll ausgebucht.” Urlaube und Familientreffen verbringt Jutta mit ihrem Siegfried.
Kompromisse sind gefragt
Gemeinsame Erlebnisse schweißen zusammen – auch Paare in lockeren Lebensformen wie LAT. So erzählt Jutta: “Ich habe jah-relang keinen Sport getrieben – Siggi ist dagegen sehr sportlich. Jedes Wochenende walke ich nun, und er begleitet mich mit dem Fahrrad.” Auch beim Kochen hat sich die 61-Jährige umgestellt: Es gibt wenig Fleisch, dafür mehr Gemüse. “Um Kompromisse kommt man nicht herum, wenn die Beziehung von Dauer sein soll. Und das möchte ich. Ich möchte jemanden, der mich in den Arm nimmt.”
Weil alles seinen Preis hat, auch die große Freiheit, bekommen LAT-Paare auch die Kehrseite der Medaille zu spüren. “Sie können nicht auf vorgelebte Beziehungsmuster zurückgreifen”, sagt die Psychologin Neberich. Außerdem ist es unterm Strich eine teure Angelegenheit, wie sowohl Jutta als auch Annegret einräumen. Schließlich muss alles doppelt vorhanden sein: Wohnungen, Kühlschränke, Staubsauger, Versicherungen…
Wenn beide ihr Zuhause und ihre Eigenständigkeit behalten, trennt es sich freilich auch leichter. Die Berliner Wissenschaftler haben festgestellt, dass sich die Hälfte der LAT-Paare nach sechs Jahren wieder trennt. Auch bei Annegret und Emanuel sah es schon einmal nach dem Ende ihrer Beziehung aus. “Wir waren einmal ein Jahr lang auseinander. Emanuel musste beim Abschied lediglich seine Haar- und seine Zahnbürste packen. Mehr Dinge gab es von ihm nicht in meiner Wohnung”, erinnert sich Annegret. Und heute? “Wir möchten zusammen alt werden. Trotzdem muss ich dazu weder heiraten noch zusammenziehen. Wichtiger ist: Ich habe jemanden, an den ich mein Herz hängen kann. Das ganze Geheimnis ist: Emanuel und ich sind seit 32 Jahren ein Liebespaar, eben weil wir nicht zusammenwohnen!”
Ist LAT ein Zukunftsmodell? “Wenn die Familienplanung noch nicht abgeschlossen ist, ist LAT in der Regel nur eine Übergangsphase”, antwortet Wiebke Neberich. Anders stellt sich die Situation für die ältere Generation dar. Zumal, wenn die Partner verwitwet sind. “In diesem neuen Lebensabschnitt ist “living apart together” eine attraktive Alternative, um eine neue Partnerschaft einzugehen.” Man möchte sich nicht zu eng aneinander binden, sucht aber Vertrauen und Verlässlichkeit. Doch bei der Mehrheit werde am Ende das Bedürfnis nach Nähe siegen, glaubt die Berliner Psychologin.


Am Ende wollten sie doch unter einem Dach leben: Fritz und Ilse aus Nürnberg. Fotos: Mile Cindric

Liebe auf den ersten Blick
So war es schließlich auch bei Ilse und Fritz, 73 und 81 Jahre alt. Beide waren verwitwet, als sie sich vor 17 Jahren kennenlernten. Zuvor war Ilse 29 Jahre mit ihrem ersten Mann glücklich gewesen, und Fritz war sogar 35 Jahre verheiratet. Eine Annonce in der Zeitung führte die beiden zusammen. “Als wir uns sahen, war es gleich Liebe auf den ersten Blick”, erzählt sie. Trotzdem sind die fünffache Mutter und der zweifache Vater sechs Jahre lang zwischen Nürnberg und Unterferrieden im Nürnberger Land, wo Fritz ein Haus gebaut hatte, hin- und hergependelt. “Ich wusste nicht mehr, wo ich wohne”, erinnert sich die Nürnbergerin. “Und teuer war die Fahrerei! Mir gefiel es auch nicht mehr, nachts heimzufahren – und dann war ich doch wieder allein.”
Also hat sie ihm den Einzug in ihr Haus schmackhaft gemacht, indem sie ihre Möbel verscherbelt und damit Platz für seine geschaffen hat. “Irgendwie hat es uns zusammengezogen”, sagt Fritz auf seine ruhige, bedächtige Art. Es folgten zwei Jahre auf Probe. “Dabei haben wir gemerkt: Es wird wirklich was”, sagt der ehemalige Elektroingenieur. Also haben Ilse und Fritz mutig den nächsten Schritt gewagt. “Vielleicht ist es altmodisch, aber ich habe ein anderes Gefühl, wenn ich sage: ‘mein Mann'”, meint Ilse. Und tatsächlich haben die elffachen Großeltern 2003 noch einmal “Ja” gesagt.
Ute Fürböter

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