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Der Film “Wir sind so frei” ist ein ungewöhnliches Dokument für die Schaffenskraft der älteren Generation. Foto: oh
Im Alter fühlen sich viele Menschen diskriminiert. In einer Zeit, die den Jugendwahn lebt, und in der manche Politiker das Älterwerden als soziale und versorgungstechnische Zumutung beschreiben, muss man über diese Diskriminierung diskutieren. Die Auseinandersetzung findet in vielen Medien statt. Auch im Kino und – wie diese kleine Zusammenstellung von Filmen zeigt – nicht erst seit unseren Tagen.
Die Filmreihe zum Thema Altersdiskriminierung hat drei wichtige Beispiele aus der Filmgeschichte zusammengetragen und endet mit einer Mut machenden Dokumentation von heute. Ein Stummfilm wird von Livemusik begleitet, zur Dokumentation kommen Vertreter des Regieteams. In jeder Vorstellung gibt es Einführungen zu den sozialen und filmhistorischen Aspekten und es werden Diskussionsmöglichkeiten geboten.
»Der letzte Mann« (1924)
Der Portier des Hotel Atlantic ist alt geworden. Er tut sich schwer mit den Gepäckstücken der Gäste. Deshalb beschließt die Hotelleitung, ihn abzusetzen. Ihm wird der Posten des Toilettenwärters zugewiesen, des letzten Mannes im sozialen Gefüge eines Hotelbetriebs. Dabei hatte er aus der Portiers-Uniform all sein Selbstbewusstsein gezogen. Auch der Respekt von Familie und Nachbarn hing an dem Kleidungsstück – wir befinden uns im Jahr 1924, mitten im Berlin der Weimarer Republik. Um den Schein aufrecht zu erhalten, stiehlt der alte Mann die Uniform – und nur ein märchenhafter Filmtrick kann die Tragödie verhindern…
Friedrich Wilhelm Murnaus (1888-1931) Stummfilm »Der letzte Mann« handelt von den Krisen am Ende des Berufslebens. Menschen bringen ihre Existenz in einen Beruf ein und ziehen ihren Selbstwert aus diesem Beruf. Dann schlagen ihnen Alter, Gesellschaft und Hierarchie den Beruf aus der Hand. Plötzlich stehen sie geradezu nackt und hilflos da. Ein Daseins-Korsett bricht weg. Und es zeigt sich, dass nicht die Person sondern die Persona (so heißt die Maske auf Lateinisch) sozialen Status und Image ausmachen. Die filmische Metapher der Uniform steht für diese Maske und symbolisiert den Schein, hinter dem Spott und Diskriminierung lauern.
Nicht nur wegen seines Themas ist »Der letzte Mann« ein Meisterwerk des expressionistischen deutschen Stummfilms. Es belegt, wie man fast ohne Worte mit der Kamera erzählen kann und wie die Kamera in den Zwanziger Jahren alle ihre Fesseln abzulegen begann. Außerdem zeigt der Film den Schauspieler Emil Jannings in der Rolle des Portiers auf dem Höhepunkt seines Könnens.
D 1924, Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Buch: Carl Mayer, Kamera: Karl Freund, Darsteller: Emil Jannings, Maly Delschaft u.a., Länge: 73 Min. Am Live-Piano: Miller the Killer
Wohin mit den Alten?
»Die Reise nach Tokyo« (1953)
Ein altes Ehepaar macht sich auf, um seine Kinder in der Großstadt Tokyo zu besuchen. Die Eltern leben auf dem Land und denken in den Traditionslinien der japanischen Familienkultur. Die Kinder aber sind dieser Kultur durch den schnellen Rhythmus der Moderne in den Städten entfremdet worden. Sie haben keine Zeit für die Alten, sie wissen nichts mit ihnen anzufangen, sie schieben sie in ein Seebad ab. Doch auch dort fühlen sich die Senioren von feiernden jungen Touristen ausgegrenzt. Enttäuscht und ernüchtert kehren sie in ihr Heimatdorf zurück. Auf sie warten Tod und Einsamkeit.
Schon im Jahr 1953 hat der japanische Regisseur Yasujiro Ozu (1903-1963) in dem Film »Die Reise nach Tokyo« (Tokyo Monogatari) vom Zerfall der (japanischen) Familie durch die Anforderungen der modernen Arbeitswelt erzählt, von der wachsenden Kluft zwischen den Generationen und von der Diskriminierung der Alten durch die völlig veränderten Denkmuster der Jungen. Dabei klagt er nicht an. Er beobachtet nur, konstatiert die Sachverhalte, richtet die Kamera ruhig auf zwei getrennte, kaum noch überbrückbare Lebenswelten. Doch gerade durch die Intensität des Blicks wird die Geschichte schmerzhaft und melancholisch, stellt sie Fragen an die Zuschauer und entfaltet eine Ratlosigkeit, die nach Lösungen verlangt.
In diesem Jahr wurde »Die Reise nach Tokyo« bei einer Umfrage unter berühmten Regisseuren zum besten Film aller Zeiten gewählt. Und der deutsche Filmemacher Wim Wenders schrieb: »Wenn es in unserem Jahrhundert noch Heiligtümer gäbe, wenn es so etwas gäbe wie das Heiligtum des Kinos, müsste das für mich das Werk des japanischen Regisseurs Ozu Yasujiro sein.«
Japan 1953, Regie: Yasujiro Ozu, Buch: Kogo Noda, Yasujiro Ozu, Kamera: Yushun Atsuta, Darsteller: Chishu Ryu, Cieko Higashiyama u.a., Länge: 136 Min. – OmU
Die doppelte Diskriminierung
»Angst essen Seele auf« (1973)
Die Sehnsucht nach der Nähe eines anderen Menschen endet nicht mit dem Alter. Emmi, 60 Jahre alt, Witwe, Putzfrau, spürt das, als sie einen arabischen Gastarbeiter kennen lernt, den sie Ali nennt und der 30 Jahre jünger ist als sie. Trotz des Altersunterschieds verlieben sich die beiden einsamen Menschen ineinander und heiraten sogar. Sie können aber nicht in Frieden leben, weil es der Umwelt nicht gefällt. Emmis Kinder reagieren aggressiv. Emmis Kolleginnen zerreißen sich voller Ressentiments die Mäuler und grenzen sie aus. Schließlich gerät die Beziehung des Paares selbst ins Wanken, als Emmi die kulturellen Bedürfnisse Alis missachtet und er ein altes Liebesverhältnis wieder aufnimmt.
Rainer Werner Fassbinders (1945-1982) Film »Angst essen Seele auf« führt kleinbürgerliche Verhältnisse im Jahr 1973 und in der Bundesrepublik Deutschland vor. Fassbinder zeigt zwei Konfliktlagen: den Konflikt der Kulturen und den Konflikt des Alters. Ali wird als Fremder diskriminiert und Emmi als Deutsche, die sich mit dem Fremden einlässt. Gesteigert wird das Konfliktpotential durch den Altersunterschied. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ältere Männer sich mit jungen (durchaus exotischen) Frauen gern schmücken, während der älteren Frau die Hinwendung zu einem jungen (ebenfalls exotischen) Mann als unmoralisch ausgelegt wird. Emmi muss sich von Alis Arbeitskollegen als »Großmutter aus Marokko« beschimpfen lassen. So erscheinen Alter und Fremdheit als zwei Seiten eines gesellschaftlichen Makels.
Fassbinders Film ist eine eigenwillige Mischung aus den Genres Melodram und Lehrstück. Mit stark inszenierten Emotionen appelliert er an die Gefühle der Zuschauer, um mit distanziertem Kamerablick zugleich soziale Modellsituationen zur Diskussion zu stellen.
BRD 1973. Regie + Buch: Rainer Werner Fassbinder, Kamera: Jürgen Jürges, Darsteller: Brigitte Mira, El Hedi Ben Salem, Barbara Valentin u.a., Länge: 93 Min.
Die Senioren in der Manege
»Wir sind so frei« (2012)
Zuerst sieht alles ein wenig nach sehr konventioneller Fernseh-Dokumentation aus. Menschen stellen sich vor. Es sind Senioren, die der Kamera von ihren Zirkus-Träumen erzählen – in den Dünen von Sylt, zwischen Schweinekoben, in einem Wohnzimmer. Aber irgendwann geht es dann los in der Manege des »Mignon Insel Circus«, einem Sylter Sommer-Projekt, das seit 2009 das Experiment Seniorenzirkus wagt. Die alten Menschen, die nie Berufsartisten waren, beginnen mit kleinen Übungen, um ihre Körper zu studieren und zu trainieren.
Sie suchen sich die Nummern aus, in denen sie sich wohl und sicher fühlen als Jongleure, Equilibristen, Clowns. Man probt, man macht Selbsterfahrungen. Vor allem macht man die Erfahrung, dass man sich selbst auch noch überwinden kann, wenn man 60 oder 80 Jahre alt ist. Dann raunt das Publikum auf den Bänken, die Scheinwerfer gehen an und alte Körper entfalten erstaunliche Fähigkeiten, von Beifall umtost.
»Wir sind so frei« ist ein Dokumentarfilm, der Mut im und zum Alter macht. Marion Wilk und Ernst Matthiesen, die Regie und Kamera geführt haben, lassen ihre Protagonisten zwar durchaus über eigene Altersvorstellungen und Alterswahrnehmungen sprechen, doch vielsagender sind die Bilder. Sie zeigen, wie Menschen der natürlichen »Altersdiskriminierung« entgegen arbeiten. Es ist die Diskriminierung der Muskeln, der Knochen, der Köpfe durch den Verschleiß, den Leben bedeutet. Die Artisten im Seniorenzirkus scheuen sich nicht, ihre Altersbeschränkungen vorzuführen. Doch zugleich demonstrieren sie, wie man im Spiel und durch Training mit diesen Beschränkungen umgehen und sie zum Teil sogar verringern kann. So zeigen sich die Artisten in der Zirkusmanege keineswegs mutlos.
D 2012. Regie + Kamera: Marion Wilk, Ernst Matthiesen. Darsteller: Seniorenartisten vom Mignon Insel Circus. Länge: 90 Min. – Zur Vorstellung am 4. November sind die Filmemacher Marion Wilk und Ernst Matthiesen zu Gast
Zusammenstellung: Herbert Heinzelmann
Fotos: Filmverleih

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