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Süd Korea, Suneung: danach fängt das Leben

Hello all, … ja mit Siebzehn fängt doch das Leben erst an…“ trällerte Peter Kraus, während Peggy March „mit Siebzehn hat man noch Träume“ krähte. Teenagergefühle – aber nicht überall die gleichen.
Süd Koreas Siebzehnjährige haben vor allem Albträume, blanken Horror vor dem zweiten Donnerstag im November eines jeden Jahres. Sie plagt nicht solidarische Sorge um St. Martinsgänse oder Angst vor dem Export des Mainzer Karnevals nach Seoul, sondern Angst vor „Suneung“. Der gilt als der wichtigste Tag im Leben der meisten Süd Koreanischen Teenager. An diesem Tag hält eine ganze Nation buchstäblich den Atem an, Jung und Alt. Autohupen verboten. Dieses Jahr wurden 87 Flüge verschoben, um Startlärm zu vermeiden. Alle Fabriken, Büros, sogar die Börse von Seoul nahmen eine Stunde später die Arbeit auf, um die Strassen frei zu halten – die Suneung- Kandidaten hatten Vorfahrt. Die Polizei stellte Einsatzwagen bereit, um Verspätete noch rechtzeitig in die Zentren zu eskortieren. Streiks und Protestmärsche pausierten aus Rücksicht vor der Aufgabe der Siebzehnjährigen. Millionen Erwachsene strömten in die Kirchen und buddhistischen Tempel, die besonders Motivierten erklommen den Berg Palong, um für ihre Suneung- Kandidaten Hilfe von den zuständigen himmlischen Autoritäten zu erflehen.
Eine neue Kohorte Siebzehnjähriger stellte sich am 8. November 2012 Suneung, dem standardisierten Zentralabitur, kurz SCAT genannt, das pünktlich von 8:40 in der Früh bis 18:05 abends stattfand – exakt wie jedes Jahr. Wenige Länder dieser Welt nehmen die Ausbildung ihres Nachwuchses so erfolgreich und so ernst wie die Süd Koreaner. 95% der heute 25 – 34 jährigen Koreaner haben Abitur (Deutschland: unter 50%); zurzeit nehmen 82% eines Jahrganges ein Universitätsstudium auf. Weltrekord. Den Familien kommt der Drang nach Bildung teuer. Durchschnittlich bietet jede Familie je Kind zwischen 500 bis 750 Euro monatlichzusätzlich für Nachhilfeunterricht auf, den 97% (!) aller Schüler nach Schulschluss und in den Ferienwochen besuchen. Da schießen, wo nötig Onkel, Tanten und Großeltern Geld ein, damit der Nachwuchs es möglichst in den „SKY“ schafft: das ist die Abkürzung für die drei Spitzen- Universitäten Koreas. Wer es dort hinein (und erfolgreich heraus!) schafft, der hat die besseren Voraussetzungen für Beruf, auf dem Heiratsmarkt und im Leben überhaupt. Zum Vorgeschmack auf die goldenen Zeiten als erfolgreicher Erwachsener erhalten die erschöpften Prüflinge süßen Klebereis in goldenen Päckchen – Lohn der Angst. Auch latente Angst vor dem Versagen und den Versagern; Scham, die jedes Jahr Dutzende Jungendlicher in den Selbstmord treibt– um sich selbst und der Familie die Schande zu ersparen. „Sepuko“ der anderen Art…(für die Japankenner).
Was geht mich Süd Korea an? Ich fahre weder Hyundai, noch besitze ich wissentlich etwas von Samsung, Lotte oder LG. Mir imponiert die an diesem Tag gelebte Solidarität mit den Schülern in ihren schicksalsschweren Stunden; dass Angehörige und Fremde über alle Generationen, Behörden, Institutionen und Betriebe hinweg alles tun, um Siebzehnjährigen über diese große Hürde hinweg zu helfen.
Damit sie danach erleichtert, mit dem bestandenen Suneung, Peter Kraus Erkenntnis folgen können „mit Siebzehn fängt das Leben erst an“.
Wir wissen natürlich : Der Mann irrte sich: Laut Udo Jürgens fängt es erst mit sechsundsechzig an !
Ihr Global Oldie

3 Antworten

  1. Also nix gegen gelebte Solidarität. Aber in diesem Fall scheint es mir doch so, als ob eine durch und durch auf Leistung fixierte Nation die Einübung ihres Nachwuchses auf eben diese neurotischen Verhaltensweisen bedingungslos unterstützt. Ziemlich unkritisch auch noch. Denn ich möchte nicht in diesem Land leben, wenn ich der Meinung wäre, dass diese neurotische Fixierung auf Leistung falsch ist. Denn es gibt auch ein Leben neben der Karriere. Aber das werden dann wahrscheinlich die Psychiater in Seoul feststellen und alle werden bedauernd die Stirne runzeln und sich ihrer, auch in Südkorea weniger werdenden, Arbeit zuwenden.

  2. wie sollen eltern in deutschland, selber aus gestörten familien, von sozialhilfe lebend, ihren bildungswilligen kindern, erklären und vielleicht vorleben (und dann noch finanziell unterstützen, nachdem 4 katzen und zwei hunde und zigaretten viel wichtiger sind), wie wichtig bildung ist. und es werden immer mehr. deswegen muss hier der staat eingreifen, mehr ganztags-schulen, mehr kindern eine chance geben denn die sogenannten eltern, können, wollen, interessieren sich nicht, es lebt sich doch gut mit stütze-

  3. neurotisch, weil leistungsorientiert? Vermutlich begreifen mitteleuropäische Maßstäbe nicht diese Kultur. Koreaner fühlen sich wohl als anerkannte Mitglieder einer Bezugsgruppe. Dem individuellen Glück westlicher Prâgung steht das kollekive Glück koreanischer Prägung gegenüber. Glücklich schätzt sich, wer etwas für die Familie, den Bertieb und die Nation beitragen kann. Dem Westlichen Besucher fallen u.a. der ausgeprägte Stolz auf kollektive Leistungen, die Geschichte und Nation auf. Korea ist eine der typischen Schamkulturen, in denen es das Schlimmste ist, andere aus den relevanten Bezugsgruppen zu beschämen. Dazu gehört individuelles Versagen. Korea ist ein schlechtes Pflaster für Behinderte, Versehrte, Witwen und Schwache jedweder Art.
    Gleichzeitig gehoeren Koreaner zu den groessten Bewunderern Deutschlands, die unsere Klassik, unsere Technik , die Rechtssicherheit und Wiedervereinigung aufs hoechste schaetzen. Unangenehm verwundert zeigen sich manche koreanische Gaeste bei Besuchen in Deutschland ueber Grafitti und verschmutzte oeffentliche Anlagen, ueber unfreundlichen Umgang untereinander und jedwede Anzeichen zur Schau gestellter Verwahrlosung und Undiszipliniertheit. Braucht Deutschland deswegen Psychiater, wie es der obige Blogger den Koreanern empfiehlt?
    Es bleibt wohl bei der Einsicht: andere Laender , andere Sitten.

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