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Cartoon: Sebastian Haug
Cartoon: Sebastian Haug
Spazierengehen mit meiner Mutter ging früher so: Ich: »Kommst du mit? Ich möchte ein bisschen an die Luft.« Sie: »Eigentlich schon…« Ich: »Was heißt eigentlich? Willst du oder willst du nicht?« Sie: »Ich käme ja gern mit, aber ich habe keine Schuhe!« Daraufhin stürzte ich für gewöhnlich zum Schuhschrank und wies anklagend auf drei gut gefüllte Regalbretter. »Sind das etwa keine Schuhe? Und die da, die hast du dir doch gerade erst gekauft?« Meine Mutter, kleinlaut: »Die kann ich nicht anziehen, die Füße tun mir darin so weh! Im Laden passten sie noch, aber zu Hause waren sie viel zu eng und klein!« Wiederum ich, schulmeisterlich: »Warum kaufst du dir nicht endlich mal Schuhe, die passen?« Meine Mutter seufzte, zwängte sich in ein Paar älteren Datums, und wir zogen los. Zurück in der Wohnung entledigte sie sich umgehend ihres Schuhwerks und schlüpfte in ihre bequemen alten Schlappen.
Heute, zwanzig Jahre später: Ich stehe im Schuhgeschäft. Die Auswahl ist groß: Sportschuhe, Pumps, Ballerinas, Sandalen, flache Absätze, hohe Absätze, Keilabsätze, alles, was ein noch immer modebewusstes Herz erfreut. »Darf ich Ihnen helfen«, nähert sich eine sehr junge Verkäuferin mit Blick auf die diversen Modelle, die ich rund um meinen Stuhl verstreut habe.
»Vielleicht versuchen Sie es eine halbe Nummer größer«, schlägt sie vor, als ich vergebens meinen rechten Fuß in den einen oder anderen Schuh zu zwängen versuche. Nichts zu machen. »Vielleicht schauen Sie sich mal in unserer Bequem-schuh-Abteilung um«, rät sie schließlich, und da bin ich nun. Vor mir der bequeme Laufschuh mit gesundem Fußbett und vernünftiger Absatzhöhe – »sieht doch sehr elegant aus«, findet die Verkäuferin, eine freundliche Person, gut in den Fünfzigern und offenbar erfahren in der Beratung von Problemfällen meines Alters.
Klar, alles eine Sache des Geschmacks, und über den kann man bekanntlich nicht streiten. Ich laufe probehalber ein paar Schritte hin und her und vermeide die Begegnung mit dem Spiegel. Die Schuhe passen. Elegant sind sie nicht. Ich nehme sie trotzdem.
»Denk doch mal, wie viele Jahre du schon auf deinen Füßen herumläufst«, hält mir die befreundete Damenrunde vor, die sich anschließend mein Gemurre anhört. »Sei froh, dass du überhaupt noch gut laufen kannst.« Stimmt schon, aber trotzdem – etwas mehr Chic dürfte schon sein. Verstohlen senke ich meine Blicke unter den Tisch. Bequeme Laufschuhe allerorten.
Heißt es nicht, Töchter wollen es immer besser machen als ihre Mütter? Oder wenigstens ganz anders? Von der Kindererzie-hung bis zur Haushaltsführung? Na bitte, genau das ist mir gelungen, wenigstens in diesem Fall. Ich kann spazieren gehen, wann immer ich will, in bequemen Schuhen. Wenn das nicht ein Trost ist! Hinten in meinem Schuhschrank übrigens fristen die schönen schmalen italienischen Modelle ihr einsames Dasein. Manchmal nehme ich sie in die Hand und betrachte sie voller Wehmut. Im Laden passten sie noch.
Brigitte Lemberger

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