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Berlin-Marathon 2013: Mein Lebens-Lauf

Noch kann er lachen und winken, aber weiß Reihardt Sellnow, dass derschwieigste Teil der Strecke noch vor ihm liegt? Foto: privat
Noch kann er lachen und winken, aber weiß Reihardt Sellnow, dass derschwieigste Teil der Strecke noch vor ihm liegt? Foto: piirvat

Es ist rund 50 Jahre her, da war ich ein eifriger junger Sportler im Berliner Sportverein Z 88 (Zehlendorf), trainierte bei den Leichtathleten und war ein begeisterter und talentierter Mittelstreckenläufer. Mein großes Vorbild und Idol war Bodo Tümmler, der Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre mehrfacher Deutscher Meister über 1500 m war, bei den Olympischen Spielen 1968 die Bronze-Medaille gewann und 1973 den Marathon in 2:34:73 h lief. Im Winter 1963 gewann er die Berliner Waldlaufmeisterschaften bei den Männern und ich schaffte es, bei dieser Veranstaltung in der B-Jugend den 1. Platz zu gewinnen. Wir standen beide in einem Sportartikel des Berliner Tagesspiegels. Da war ich stolz wie Oskar und nahm mir später vor:
Einmal in meinem Leben werde ich auch einen Marathon laufen…
Dann vergingen viele Jahre und Jahrzehnte und die allermeisten davon eher unsportlich. Bis ich im Mai 2012 bei einem beruflichen Termin in Stuttgart eine junge Kollegin, Viola, traf und beim privaten Gespräch in der U-Bahn zufällig erfuhr, dass sie mit ihrem Dad (Mitte 60) zusammen einen Marathon gelaufen ist. Da war ich sehr beeindruckt, plötzlich hellwach und interessiert und wusste, da war doch mal was … Ich lernte Ihren Dad kennen und erfuhr viel von ihr über die Herausforderungen eines Marathons, was schließlich den Wunsch reifen ließ, diesen alten, beinahe vergessenen, Traum in Angriff zu nehmen und mit Leben zu füllen. Als Ziel kam nur der Berlin-Marathon 2013 in Frage – in meiner Heimatstadt. Wozu sollen (Lebens-) Träume gut sein, wenn man sie nicht auch ausprobiert? Und wenn nicht jetzt – wann dann? Danke, Viola!
Der erste Ratschlag war: Bereite Dich gründlich und sorgfältig vor, stell das Projekt auf eine solide Grundlage, damit es kein gesundheitliches Risiko wird. Und so liess ich mich zuerst ärztlich durchchecken: Keine Probleme zu erwarten. Dann suchte ich mir auf ihren Rat hin einen Lauftrainer in Nürnberg, Roland Blumensaat (www.schritt-weise.de), der selbst schon viele viele Marathons gelaufen ist, machte bei ihm eine Laufbandanalyse, liess mich bei der Wahl der richtigen Laufschuhe beraten und ging in seine Laufgruppen. Auf meine Frage, ob ich mit meinen 66 Jahren ein realistisches Ziel verfolge, mit knapp 1,5 Jahren Vorbereitung einen Marathon zu laufen, meinte er: Anspruchsvoll, ehrgeizig, aber mit Mut, Ausdauer und Konsequenz sei das zu schaffen. Dass es leicht sei, hat er nicht gesagt…
Anfangs konnte ich keine 300 m laufen, ohne wieder ins Gehen zu fallen, weil mir die Puste fehlte, aber Zug um Zug steigerte sich die Kondition und es ging immer besser. Mit systematischem Aufbau und Trainingsfleiß über den Winter, meldete ich mich für den Halbmarathon Anfang Februar 2013 in Bad Füssing an und erlebte den ersten heftigen Rückschlag. Nach 7 Km bekam ich heftige Knieschmerzen rechts, konnte nicht mehr weiterlaufen und musste, da es ein Rundkurs war, die restlichen 14 Km humpelnd bis ins Ziel gehen. Dem folgten viele Wochen von Dehnübungen parallel zum Lauftraining, dann war das sog. “Läuferknie“ verheilt und ich konnte wieder schmerzfrei laufen. Einige Wochen später gab es neue Probleme, diesmal von den Fußballen her. Nach mehr als 10 Km stellten sich Schmerzen ein, wie wenn ich einen spitzen Stein im Schuh hätte. Ich war wieder nahe am Aufgeben, aber immer wieder motivierte mich Roland, doch noch etwas Neues auszuprobieren und gab mir Tipps und Übungen und Internet-Links und ….
So probierte ich neue Laufschuhe, andere Einlagen, machte Fußgymnastik, lief teilweise in Sandalen und endete schließlich bei Plastik-Badelatschen, die ich für 6,95 € im internet erstand.
Und Berlin rückte immer näher, die Zweifel wuchsen … und doch gab es immer wieder kleine Wunder. Zwei Wochen vor dem Berlin-Wochenende gab es als „Generalprobe“ die Teilnahme am Seenlandhalbmarathon rund um den Brombachsee: Ich „flog“ um den See in den Badelatschen ohne Fußschmerzen und in Bestzeit von 2:13 Std.!
Mit diesem guten Ohmen fuhr ich am Freitag nach Berlin zum 40. Berlin-Marathon. Ich hatte viel gelesen, was gute Vorbereitung und auch mentale Einstellung betrifft. Dazu gehörte ein klares Ziel und das lautete für mich: Beim ersten Marathon meines Lebens will ich nur ankommen. Natürlich braucht man auch eine Zeitvorstellung, um sich die Strecke gut einzuteilen und gleichmäßig „wie ein Uhrwerk“ zu laufen. Roland traute mir sogar eine Zeit unter 5 Std. zu! Ich hatte ich mir dann einen Schnitt von 7,5 Min / Km vorgenommen, das sollte für die Gesamtstrecke von 42,195 Km realistisch sein und hätte ein Ergebnis von insgesamt 5:15 Std. bedeutet.
Am Samstag fuhr ich zum alten Flughafen Tempelhof, um dort meine Startunterlagen abzuholen, eine letzte Massage zu genießen und auf der Sportmesse rumzubummeln. Da war ich schon mal beeindruckt von der Teilnehmerzahl. 40.000 Läuferinnen und Läufer als Zahl auf dem Papier sind das eine, aber real das andere. In diesem Gewusel habe ich doch tatsächlich meine Nürnberger Laufgruppe getroffen: Karin, Susanne und Jürgen, mit denen ich seit Monaten jede Woche die Langstreckentrainingseinheit über 20 – 25 Km absolviert habe. Jeder von uns hatte seine Bedenken und Zweifel: Jürgen konnte monatelang wegen Knieschmerzen nicht trainieren, Susanne kam mit Magen-Darmgrippe nach Berlin und auch bei Karin zwickte es. Wir machten uns gegenseitig Mut und auch die Veranstalter haben sich um die Anmeldung herum zur Aufmunterung sehr viel einfallen lassen, der ganze ehemalige Flughafen war ein quirliges Sport-Event
z.B. konnte man sich zur mentalen Einstimmung auch schon mal zum Siegerfoto am Zieleinlauf aufstellen.
Der große Tag
Die Nacht war unruhig und kurz. Aufstehen um 5.30 Uhr, ein leichtes Frühstück und ab zur S-Bahn zum Zielgelände am Brandenburger Tor. Es war noch dunkel und dennoch war die S-Bahn voll mit Läufern, am Einheitskleiderrucksack und dem Jogging-Dress gut zu erkennen. Vom S-Bahnhof führte der Weg schon mal im frühen Morgenrot der aufgehenden Sonne durch das Brandenburger Tor und man konnte sehen, wo man nach 42 Km ankam. Der Start-Zielbereich vor dem Reichstagsgebäude war großräumig abgesperrt und man kam nur mit Startnummer und einem Armband rein, das am Vortag um das Handgelenk geklebt wurde. Auf der großen Wiese war dann die letzte Möglichkeit, ein Dixie-Klo aufzusuchen und den Kleidersack abzugeben. Mit etwa 6 Grad war es recht frisch und noch über 1 Std. Zeit bis zum Start. Deshalb bekam jeder hilfsweise einen gelben Plastiksack übergestülpt, um nicht ganz auszukühlen.
Auf dem Weg zu meinem Startblock „H“ (dem Letzten für die langsamen Läufer) sprach mich eine Reporterin der Fachzeitschrift „Runner´s World“ an. Sie sah ungläubig auf meine Schuhe, bat ihren Fotografen diese und meine Füße zu fotografieren, machte ein Interview mit mir und verabredete sich mit mir zu einem Treffen nach dem Lauf, wo sie erneut die Schuhe und Füße fotografieren wollte. Sie stellte mir einen Bericht in ihrer Zeitschrift in Aussicht.
Im Block H des Startbereiches angekommen, hieß es nun warten. Alle Vorbereitungen hatten geklappt, jetzt wurde es wirklich ernst, der Traum stand unmittelbar vor seiner Verwirklichung. Es war ein seltsames Gefühl von Spannung, Vorfreude und Bewegtsein, denn mir war klar, dass dieser Lauf nicht nur 42 Km durch irgendeine Stadt waren, sondern ein Lauf durch meine Heimatstadt, in der ich geboren wurde, aufwuchs, studierte und die ich 1976, also vor 37 Jahren, verlassen hatte, um nach Nürnberg zu gehen. Ich spürte in dem Moment, es würde auch ein Lauf durch mein Leben werden, also mein Lebens-Lauf ….
Es braucht seine Zeit bis 40.000 Läuferinnen und Läufer ihren Startplatz einnehmen, und die Veranstalter taten ihr Bestes, Kurzweil zu bieten. Es gab Musik, Informationen, Interviews mit den früheren Weltrekordläufern, die sie eingeladen hatten und dann auch noch ein warming up. Hierzu hatten sie kleine Bühnen auf der Straße des 17. Juni aufgebaut, auf denen Vortänzer zu rhythmischer Musik und wummernden Bässen die Wartenden animierten mitzumachen und auch Maskottchen Fridolin wärmte die Herzen…
Dann geschah erneut das kleine Wunder, dass ich in dem Gewühl meine Nürnberger Lauffreunde traf und wir blieben nun zusammen bis zum Start. Der erste Startschuß fiel um 8.45 Uhr und war für Spitzenläufer bestimmt, der zweite fiel um 9.00 Uhr und der dritte für den Block H um 9.15 Uhr. Mit über einer halben Stunde „Verspätung“ kamen wir über die Startlinie, aber dank Laufchip am Schuh wurde ja die Nettozeit, also die tatsächliche Laufzeit gemessen. Mit dem Start fiel nun alle Nervosität ab, endlich gings los und alle rannten, wie um ihr Leben! Dank Lauftrainer Roland wusste ich: Der Versuchung widerstehen und nicht mitrennen, von Anfang an beim eigenen gewählten Tempo bleiben und so wurden wir zunächst von vielen überholt, die in der Schlange noch hinter uns standen und es eiliger hatten. Da es die drei anderen Nürnberger noch langsamer angehen wollten als ich, trennten sich unsere Wege an der Siegessäule und ich lief langsam etwas voraus. Die lange breite Straße des 17. Juni nahm die Läufermassen auf und langsam streckte sich das Feld. Als wir am Ernst-Reuter-Platz rechts abbogen, um nach Moabit zu laufen, war es schon recht übersichtlich um einen herum.
Langsam kam die Körperwärme zurück und in den sonnigen Straßenabschnitten war es dann richtig angenehm. Die Zuschauer am Rand gaben ihr Bestes mit anfeuernden Rufen, unterstützt durch Rasseln, Trillerpfeifen, Topfdeckel und anderem Gerät. Ich fand meinen Rhythmus und genoß das Traben durch Berlins Straßen. Immer wieder fiel der Blick auf die bunte Vielfalt der Mitläufer. Viele verschiedene Nationalitäten waren erkennbar, viel Polen und Dänen, aber auch Läufer aus weit entfernten Ländern wie Mexiko oder Neuseeland waren da. Lustig waren auch viele verkleidete Läufer, die dem Ganzen Farbe, Spaß und Spiel verliehen.
Es lief wunderbar, ich spürte keine Schmerzen, keine Mühe, ich konnte die Stimmung genießen, die Läufer, die Zuschauer, und die Straßen und Quartiere Berlins. Vom westlichen Moabit wechselten wir dann in den Ostteil der Stadt und da holte mich dann meine Erinnerung ein. Nicht allzu weit von der Laufstrecke entfernt, lag die Gleimstraße 58, das alte Mietshaus, in dem mein Großvater Franz Sellnow seine Schuhmacherwerkstatt hatte, in dem mein Vater geboren wurde und in dem meine Tante mit ihren Kindern wohnte. Meine Familie lebte nach dem Krieg im Westteil Berlins (Zehlendorf), aber die „Ost-Oma“ und Tante mit ihren Kindern 100 m hinter der Grenze im Ostteil. Ich erinnere mich noch, wie ich 1961 mit 14 Jahren mit meiner Familie auf der Westseite stand und mit großen Tüchern verständnislos den Verwandten auf der anderen Seite zuwinkte. Bei diesen Bildern und Erinnerungen im Kopf liefen mir die Tränen übers Gesicht. Es war so unwirklich und doch wirklich, dass ich heute hier vorbeilaufen konnte (auf dem Foto sind meine Großeltern und mein Vater als Jugendlicher zu sehen).
Das heutige Leben wartete bei Km 10 an der Torstraße auf mich. Der erste Treffpunkt mit Irma, Sohn Benjamin und Schwiegertochter Anna. Schon von weitem hörte ich Anna rufen „Riiiiick (mein familiärer Spitzname), super, weiter geht´s!“. Da standen dann alle drei, winkten und freuten sich, wir umarmten uns und dann ging´s gleich weiter.
Zu dem Zeitpunkt war die Welt noch in Ordnung. Schon bei Km 9 spürte ich erstmals ein leichtes Ziehen außen an meinem rechten Knie, das ich ignorierte. Aber nun ging das nicht länger. Zusehens wurde das Ziehen zum stechenden Schmerz. Das „Läuferknie“, das mich zum letzten Mal vor 4 Monaten quälte, war zurück! Ich glaubte es überwunden, ausgeheilt, vorbei – aber nix da, unerbittlich meldete es sich lebendiger als je zurück. Ich versuchte es zunächst mit Gehpausen, danach konnte ich wieder einige Zeit laufen. Aber die Abstände wurden kürzer, die Gehpausen länger. Was tun? Mit dem Wechsel von Laufen und Gehen kam ich eine Weile zurecht, zumal ich durch eine neue Welle der Erinnerungen abgelenkt wurde.
Nach dem Lauf durch Kreuzberg und Tempelhof gings die Yorkstraße entlang unter den S-Bahnlinien durch in die Göbenstraße. Eine Seitenstraße ist die Kulmerstr. Und wenige Meter von der Kreuzung entfernt steht das Haus Nr. 31. Es ist das Haus, in dem meine Großeltern mütterlicherseits im Hinterhof eine 1-Zimmerwohnung hatten und darin meine Mutter Irene und ihre Schwester Eva aufzogen. Ich habe nur meine „West-Oma“ (links) kennengelernt, da der Opa Max in den letzten Kriegstagen zufällig in einen Straßenkampf geriet und vor dem Haus auf den Stufen dieser Kneipe erschossen wurde. Oft war ich hier bei der Oma zu Besuch und auch bei „Tante Evchen“, die später im selben Hinterhaus auch eine 1-Zimmerwohnung mit ihrem Mann bewohnte. Und wieder übermannten mich die Erinnerungen und ich musste heftig schlucken und die Tränen laufen lassen.
Wir bogen in die Potsdamer Straße ab und kamen am Kleistpark vorbei. Hier bei der Halbmarathondistanz von 21 Km war ich mit Mario verabredet, einem guten Freund seit über 30 Jahren. Obwohl wir uns entfernungsbedingt nicht so oft sehen, finden wir bei jedem Treffen sofort einen Draht, wie wenn wir uns erst gestern getrennt hätten. Hin und wieder gelingen gemeinsame Unternehmungen, wie z.B. vor 6 Jahren die Erkundung Südindiens auf alten Royal Enfield Motorrädern oder vor 4 Jahren eine Reise durch das buddhistische Ladakh im Himalaya mit Jeeps. Verläßlich war Freund Mario da und ging eine Weile neben mir, um mich aufzumuntern und mir Mut zuzureden.
Ich wusste inzwischen mit innerer Sicherheit, dass der stechende Schmerz im rechten Knie auch durch Gehpausen nicht zu besänftigen war. Weiteres Laufen über die doppelte Distanz bis ins Ziel war nicht mehr vorstellbar – aber nun aufgeben? Habe ich über 1,5 Jahre 1.700 Trainingskilometer absolviert, um jetzt „so kurz“ vor dem Ziel zu kapitulieren?
Da kam mir mein Vater in den Sinn, der in diesem Sommer 100 Jahre alt geworden wäre. Auch er war in seiner Jugend ein begeisterter Leichtathlet und Läufer. Mit Trainingsfleiß und Hartnäckigkeit ist er 1938 der letzte Brandenburgische Meister über 3000 m vor dem Krieg geworden. Von ihm habe ich geduldiges Dranbleiben an einer Aufgabe gelernt, Ausdauer und Hartnäckigkeit. Ich war ihm da noch etwas schuldig, Aussteigen war keine Lösung. Aber vielleicht das Herzensgebet?
Ich ging weiter und schaute mich um. Wo die Not am Größten, ist die Rettung am Nähesten. Und plötzlich nahm ich neben mir eine kleine Gruppe aus Neuseeland wahr, auf deren schwarzem Laufshirt „Kiwi Powerwalker“ stand. Die liefen nicht den Marathon, sondern sie gingen ihn in einem besonderen, flotten Gehstil. Ich schaute genau hin und versuchte diesen Gehstil zu kopieren. Bald klappte es ganz gut und ich kam mit unter 9 Min / km gut voran – schmerzfrei!
Ich war überglücklich, dass mir plötzlich eine Lösung geschenkt wurde. Ein Stein fiel mir vom Herzen und ich war wieder aufnahmebereit für meine Umgebung. Der Weg führte nun durch Schöneberg, erst entlang der Grunewald-, später der Martin-Luther-Straße, direkt am Rathaus Schöneberg vorbei. Und wieder tauchten Erinnerungen auf, als ich den Vorplatz vor dem Rathaus sah. Am 26. Juni 1963 fuhr die ganze Schul-klasse dahin, um dem amerikanischen Präsidenten Kennedy bei seiner (später so berühmt gewordenen) Rede an die Berliner zuzuhören. Diesmal war es eher ein „Geschichtsschauer“, der mir den Rücken runterlief.
Von Schöneberg kamen wir nach Friedenau, erst die Haupt- und dann die Rheinstraße entlang. Und wieder wurde die Umgebung plötzlich sehr vertraut. Beim Abbiegen an der Kaisereiche rechts in die Schmiljanstraße konnte ich links in die Saarstraße schauen, wo meine Tante Evchen die letzten 30 Jahre im Haus Nr. 2 verbracht hat. Bis zum 97. Lebens-jahr hatte sie dort im 5. Stock selbständig gelebt, bevor ich sie im betreuten Wohnen unterbringen musste und sie dort voriges Jahr im Alter von 100 Jahren verstarb. Wäre ich den Marathon nur 5 Jahre früher gelaufen, hätte sie bestimmt aus dem jetzt offenstehenden Fenster geschaut und mir zugewunken.
Inzwischen waren wir durch Streckenposten informiert, dass Wilson Kipsang aus Kenia den Marathon schon längst in neuer Weltrekord-zeit von 2:03:23 Std. gewonnen hatte. Na ja, wenn wir hier hinten nicht so kräftig geschoben hätten … ;-))
Weiter gings nun nach Zehlendorf / Dahlem, meinem Heimatbezirk. Aufgewachsen, zur Schule gegangen, im Sportverein Z 88 engagiert, schließlich zur Freien Universität zum Studieren.
Alle Wege hier waren vertraut, selbst die kleinen Seitenstraßen der Podbielskiallee. Hier sah ich sogar noch die kleine Drogerie, bei der ich mir als Schüler mein Taschengeld aufbesserte, indem ich die Waren den reicheren Kunden mit dem Fahrrad nach Hause brachte.
Mit dem Einbiegen in den Hohenzollerndamm kam immer mehr Freude auf. Ich war immer noch schmerzfrei unterwegs, genoß die Trommler, die anfeuernden Zuschauer, das deutlich wärmer gewordene Wetter – ich war zuversichtlich! Am Hohenzollernplatz, bei Km 32 wollte Mario wieder stehen, und verlässlich war er auch da! Ich freute mich sehr, ihn ein zweites Mal zu sehen und er beglückwünschte mich zum Durchhalten.
Nun war es nicht mehr weit bis zum Kurfürstendamm, den wir auf der Höhe des Olivaer Platzes erreichten. Bei Hausnummer 62 sah ich das schöne Jugendstilhaus, in dem ich vor 40 Jahren bei der Freien Planungsgruppe Berlin meine erste Arbeitsstelle als Stadtplaner angenommen hatte. Und als wir den Ku´damm hin-aufliefen, zeigte sich links die Bleibtreustraße, in der ich damals mit meiner ersten großen Liebe, Edith, meine erste eigene Wohnung bezog. Erinnerungen über Erinnerungen, ein Lauf durch mein Leben. Aber auch die Gegenwart hatte ihren Platz. Beim Übergang vom Kurfürstendamm zur Tauentzienstraße warteten wieder Irma, Anna und Benjamin auf mich, laut rufend und klatschend, die Freude war groß!
Der Rest schien ein Kinderspiel, waren es doch nur noch 7 Km bis ins Ziel. Das sollte doch kein Problem sein – oder?
Im Marathon ist nichts sicher! Es zählt nur der Augenblick, das Hier und Jetzt, jede Hochrechnung ist pure Spekulation. Und dann kam es Dicke! Die durch das Gehen überwunden geglaubten Knieschmerzen kamen zurück! Laufen ging sowieso nicht mehr, aber nun wurde auch das Gehen schmerzhaft und beschwerlich …
Wieder kam ein Aufgeben nicht in Betracht. Ich hielt öfter an und massierte mir das Knie, das half für eine Weile. Herz- oder Kreislaufpro-bleme hätten mich nachdenklich gemacht, auch Schmerzen im Inneren des Knies. Aber ich wusste, dass es eine Sehnenreizung außen am Knie war, sehr schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich – also hieß die Parole „Durchhalten!“. Ich dachte auch Lilly, unseren Großpudel. Wieviele Trainingskilometer ist sie mit mir gemeinsam gelaufen, um mir meinen Traum zu erfüllen! Sie vertraute mir blind, lief alles mit, egal wie weit und anstrengend – das soll nicht umsonst gewesen sein!
Ich war mit Irma, Anna und Benjamin als Letztes im Ziel verabredet, umso größer die Überraschung und Freude, dass sie plötzlich am Potsdamer Platz auf mich warteten.
Das machte nochmal Mut und gab Kraft für letzten 3 Km. Von hinten sah ich zwei große weiße Busse langsam heranrollen. Sie waren die Besenwagen oder Lumpensammler und schon randvoll mit Läufern, die aufgegeben hatten. Das war bedrohlich! Ich nahm reißaus, so gut ich konnte, aber sie holten mich ein und überholten mich. Ich weigerte mich, hinzuschauen, einsteigen war keine Option! Ich humpelte weiter. Danach kamen noch Polizeiautos. Die kurbelten die Scheibe runter, als sie mich schmerzvoll humpeln sahen, und boten mir einen Platz an. NEIN !!! Nie im Leben so kurz vor dem Ziel!
Endlich bog ich Unter den Linden ein, ich konnte das Brandenburger Tor sehen, das rettende Ziel war nahe und zog mich magisch an. Als ich durch das Brandenburger Tor stolperte kamen wieder die Emotionen hoch. Tränen schossen mir in die Augen, dass ich es fast geschafft hatte, nur noch 100 m! Die Tribühnen links und rechts waren noch gefüllt, die Menschen feuerten mich an, klatschten und riefen laut meinen Namen (der auf dem Startnummernschild stand). Ich wusste, dass ich das Zeitlimit von 6:15 Std. schon überschritten hatte und wohl nicht mehr in die Wertung kam. Doch da kündigte der Sprecher an, dass jetzt das Ziel und der Wettkampf geschlossen würden und bat um Schlußapplaus für die Letzten. Da sah ich rechts wieder meine Familie stehen. Sie riefen, sie winkten und drückten mir die Daumen. Dankbar hielt ich kurz, um danach mit letzter Kraft über die Ziellinie zu humpeln.
Ich habe es knapp aber doch geschafft! Ich kam gerade noch in die Wertung und ich bekam auch meine Medaille. Nach 6:28:10 Std. war ich im Ziel und der Traum hat sich erfüllt. Es hat sich gelohnt und ich blicke dankbar zurück auf die Helfer, angefangen bei Viola, die den alten Traum wieder ins Bewusstsein rückte, bis zu Lauftrainer Roland, der mich mit unendlicher Ausdauer betreute und begleitete und nicht zuletzt meiner Frau Irma, die die 1,5 Jahre der Vorbereitung akzeptierte und geduldig mittrug. Danke Benjamin, für die schönen Fotos und Videos!
Am Tag danach haben sich alle Muskeln einzeln zurückgemeldet und versichert, dass sie noch da sind. Die Knieschmerzen sind nicht mehr zu spüren.
Ein alter Lebenstraum ist wahr geworden, unerwarteter Weise in Form eines „Lebens-Laufes“. Es ist nie zu spät!
Reinhard Sellnow

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