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Foto: Aus dem Film »Mr. Morgan’s Last Love«
Foto: Aus dem Film »Mr. Morgan’s Last Love«

Gerade hat Mr. Morgan seine Frau verloren. Doch seine Kinder ist er schon lange los, keine Verbindung mehr. Erst sein Selbstmordversuch bringt sie ins Spiel. Weil »Mr. Morgan’s Last Love« ein Spielfilm ist, kommen die Generationen noch einmal ins Gespräch. In der Wirklichkeit ist das oft anders.
Im Sommer dieses Jahres zeigte der WDR eine Fernsehdokumentation mit dem Titel »Am Ende der Worte – Wenn Kinder ihre Eltern verlassen«. Filmemacher Jan Schmitt verfolgte das Schicksal von Monika G., deren beide Töchter den Kontakt zu ihr abgebrochen hatten. Kein Grund lag auf der Hand. Die Mädchen sind in einer offenbar geordneten Familie, wenn auch nicht mit dem leiblichen Vater aufgewachsen. Dieser musste sich fragen, wie groß seine emotionelle Nähe zu den Kindern tatsächlich war. Das ist der Vorwurf der Töchter: zu wenig Geborgenheit, zu wenig Zuwendung. Als sie ihr eigenes Leben gelernt hatten, brachen sie die Beziehung ab. Keine Reaktion auf Brief oder Anruf. Ratlosigkeit bei den Eltern, denn hier wird ein eingefahrenes Denkschema verletzt: Die Familie hält (und gehört) zusammen! »Blut ist dicker als Wasser.«
Ist es eben nicht. Die Familie ist, wie wir wissen, längst ein variables Phänomen des Patchworks. Der verwandtschaftliche Ge-nerationenvertrag ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Auch wenn man staatlicherseits gerade wieder so tut, als sei es notwendig, Kinder zu zeugen, um die Gesellschaft am Laufen zu halten und das Rentensystem zu sichern, so sind Kinder bei den meisten Menschen doch das Resultat ganz privater und persönlicher Entscheidungen. Man denkt heute nicht alttestamentarisch, zeugt nicht, um im Alter von der Familie aufgefangen zu werden, selbst wenn die Pflegelage da gerade Denk-Veränderungen einleitet. Im Umkehrschluss lösen sich auch die Verpflichtungsgefühle der Kinder. Das Leben hat sich stark individualisiert.
Jeder lebt das seine. Trotzdem würde man gern den schönen Schein der Heiligen Familie aufrecht halten. Verlassene Eltern berichten, wie sie so lange wie möglich Freunden und Nachbarn gegenüber den Kontaktabbruch verschleiern. Der Sohn, die Tochter hätte beruflich so viel zu tun. Deswegen kämen die Kinder nicht zu Besuch. Ihr Verlust durch Abwendung kratzt an einem Tabu. Schamgefühle kommen auf, weil das Modell der glücklichen Gemeinsamkeit verfehlt wurde. Wie einfach ist es, zu sagen: Der oder die ist für mich gestorben. Wie schwer ist es, einzugestehen, dass die eigenen Kinder einen wie einen Toten behandeln. Gefühle sind zutiefst verletzt. Und die Verlassenen erfahren häufig gar nicht, wo die Gefühlsverletzungen auf der anderen Seite liegen.
Das Zerbrechen von Eltern-Kind-Beziehungen hat es schon immer gegeben. Kinder wurden geschlagen, womöglich miss-braucht, wuchsen in einer Umgebung von Gewalt oder Alkoholismus auf. Sie hatten Gründe, sich abzuwenden. Wenn heute die Funkstille zwischen den Generationen eintritt, suchen gerade die Verlassenen oft vergeblich nach Begründungen. Sie fühlen sich als Opfer. Sie haben doch immer alles gut gemeint und vermeintlich auch richtig gemacht. Womöglich wurden die Söhne und Töchter aber durch zu viel Zuwendung in ihrem Selbstbewusstsein klein gehalten. Womöglich fühlten sie sich durch Erwartungsdruck überfordert. Vielleicht hätte die scheinbar so harmonische Familie tatsächlich Konflikte austragen müssen, aber die wurden unter den Teppich gekehrt. Oder die Eltern haben gar nicht bemerkt, dass sich die Kinder schon lange zurückgezogen hatten, zuerst hinter die verrammelten Kinderzimmertüren, schließlich und schmerzhaft aus ihrem Leben.
Längst alles gesagt?
»Lass mich mein Leben leben!« Das ist ein Satz, der in familiären Auseinandersetzungen immer wieder zu hören ist. Für manche Kontaktabbrecher ist die radikale Entfremdung die einzige Möglichkeit, sich diese Forderung zu erfüllen. Besonders schlimm ist es, wenn sich die Entfremdung im eisigen Schweigen vollzieht, weil die eine Seite glaubt, es wäre längst alles gesagt, während die andere noch so viel zu sagen hätte. Das Schweigen tut besonders weh, es macht ratlos, hilflos. Doch Kommunikationswissenschaftler sagen, auch das Schweigen sei eine Kommunikationsform, darin werde etwas ausgedrückt. Schweigen ist nur so schwer zu ertragen.
Wie lange, wie intensiv können die Verlassenen um neue Kontaktaufnahme betteln, ohne die Würde zu verlieren? Um diese Würde geht es oft genug auch den Verlassenden. Inzwischen gibt es ein paar Bücher zu dem Phänomen des Kontaktbruchs zwischen den Generationen. Selbsthilfegruppen von Betroffenen schließen sich zusammen und werden über das Internet (www.verlassene-eltern.de) vernetzt. In Ebermannstadt trifft man sich schon. In Nürnberg ist eine Gruppe im Aufbau. Informationen dazu gibt es beim Regionalzentrum für Selbsthilfegruppen KISS. Das Phänomen wird in den Medien diskutiert, weil es offensichtlich wächst. Fachleute gehen derzeit in Deutschland von rund 100.000 verlassenen Eltern aus. Und das sind kaum je junge Eltern, weil sich meist erst erwachsene Kinder zur Trennung entschließen.
Die Journalistin Tina Solimann hat mit dem Titel »Funkstille.Wenn Menschen den Kontakt abbrechen« (Klett-Cotta Verlag) das erste Buch zu diesem Phänomen vorgelegt. In einem Interview ordnet sie die Abbrecher ein: »Extrem empfindliche Menschen neigen zum Kontaktabbruch. Wenn die moralisch-seelische Widerstandsfähigkeit eines Menschen nicht stark genug ist, kommt es sicherlich eher zu solchen Störungen im Zusammenleben mit anderen Menschen. Die Rauheit verdeckt die verletzliche Seele.«
Und wie kann der Verlassene reagieren? Solimann: »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Der Verlassene zieht selbst einen Schlussstrich und beendet damit den Schwebezustand – oder er wartet, bis der Abbrecher wieder den Kontakt aufnimmt. Wenn beide mit der Situation nicht fertig werden, sollten sie fachliche Hilfe suchen.«
Es kann freilich passieren, dass die Funkstille über den Tod hinaus anhält. Dann versinkt der Sarg eines Elternteils ohne die öffentliche Trauer seines Kindes. Wie es in der Seele aussieht, weiß allerdings keiner. Wie es draußen bei manchem Verlassenen aussehen mag, zeigt indes der Aufkleber auf einem fetten Campingmobil: »Wir verjubeln das Erbe unserer Kinder.«
Herbert Heinzelmann

INFO
Das Internetportal
www.verlassene-eltern.de
bietet einen ersten Überblick über die
Thematik und Hilfsangebote.
KISS
Das Regionalzentrum für Selbsthilfegruppen in Mittelfranken e.V., das heuer 30 Jahre existiert, ist der Träger von fünf Bera-tungsstellen: Kiss Nürnberg, Kiss Ansbach, Kiss Weißenburg, Kiss Nürnberger-Land, Kiss Roth-Schwabach
Das Kiss Nürnberg befindet sich
Am Plärrer 15 • 90443 Nürnberg
Telefon: 0911 / 234 94 49
Fax: 0911 / 234 94 48
E-Mail: nuernberg@kiss-mfr.de
www.kiss-mfr.de

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