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Warten kann tödlich sein

Es gibt bekanntlich viele ungelöste Rätsel auf dieser Welt. Ein Beispiel wäre: Warum hat fast jeder Handwerker ein Handy in der Hosentasche, benutzt es aber so gut wie nie dazu, seinem wartenden Kunden mitzuteilen, dass er entweder a) sich etwas verspäten wird, b) gerade auf einer anderen Baustelle ist oder c) am vereinbarten Tag überhaupt nicht kommt?

geduld
Gerade beim Arzt wartet man lange – trotz eines Termins. Cartoon: Sebastian Haug

Es gibt bekanntlich viele ungelöste Rätsel auf dieser Welt. Ich zum Beispiel frage mich, warum fast jeder Handwerker ein Handy in der Hosentasche hat, es aber so gut wie nie dazu benutzt, seinem wartenden Kunden mitzuteilen, dass er entweder a) sich etwas verspäten wird, b) gerade auf einer anderen Baustelle ist oder c) am vereinbarten Tag überhaupt nicht kommt.
Starker Hang zum Ungefähren
Warum können Schornsteinfeger ihr Er-scheinen nicht zeitlich eingrenzen, sondern melden ihr Kommen großzügig für die Zeit »zwischen 7.00 und 10.00 Uhr« an? Wer dringend weg muss, kriegt einen Zettel an die Tür geheftet und bekommt einen neuen Termin: wieder zwischen 7.00 und 10.00 Uhr. Auch der Kofferservice der Bahn hat einen starken Hang zum Ungefähren. »Abholung zwischen 7.00 und 12.00 Uhr« oder »zwischen 13.00 und 19.00 Uhr« heißt es zum Beispiel. Der Reisende in spe hat sich, sofern er berufstätig ist, entweder einen Tag frei genommen oder Mutter oder Schwieger-mutter zum Warten verdonnert. Senioren sagen ihre Termine ab und rühren sich nicht vom Fleck.
»Weißt du, was mich besonders nervt?«, fragt meine Freundin Selma und gerät vor lauter Empörung in eine höhere Stimmlage. »Wenn ich zum Facharzt muss, warte ich erst einmal drei Wochen auf einen Termin, dann sitze ich endlos im Wartezimmer, kämpfe mich durch das halbe Lesezirkel-Angebot, komme endlich an die Reihe und bin nach zehn Minuten wieder draußen!« – »Pech gehabt, Kassenpatientin!«, frotzele ich und bringe sie noch mehr in Rage. Selma lässt nicht locker: »Das Kuriose dabei ist doch, dass man zu einem genauen Zeitpunkt bestellt wird: 10.45 Uhr zum Beispiel oder 14.20 Uhr. Dabei sind diese Termine meistens die reine Fantasie.«
Modernes Antichambrieren
Gemeinsam sinnieren wir über das Phäno-men: »Früher gab es doch mal den Begriff des ›Antichambrierens‹«, sagt Selma spitzfindig. »Hochgestellte Persönlichkeiten ließen Bittsteller und Personen von minderer Bedeutung im Vorzimmer schmoren, ehe sie sie empfingen. Die kapierten dann schnell, dass der edle Herr überaus beschäftigt war und man sich respektvoll zu verhalten und möglichst kurz zu fassen hätte. Siehst du da einen Zusammenhang?«
Ich will nicht noch mehr Wasser auf die Mühlen gießen und lenke Selma friedvoll in eine andere Richtung. »Hast du schon mal etwas vom ›kreativen Warten‹ gehört? Damit kannst du deine Zeit, wo immer du bist, sinnvoll nutzen. Während du zum Beispiel auf die Bahn wartest, machst du Beckenbodentraining, im Wartezimmer übst du dich still im Autogenen Training und zu Hause nimmst du dir ein gutes Buch oder kochst etwas Hübsches, bis der Handwerker erscheint.« – »Von wem hast du denn diesen Käse?«, will Selma wissen. Ich verrate meine Quelle nicht, wir kennen sie beide. Die betreffende Person neigt zur Absonderung von Sentenzen und (vorwiegend chinesischen) Weisheiten und hätte zum Thema Geduld bestimmt auch etwas anderes Passendes parat, etwa von der Art »Geduld ist die Blume der Seele« oder so ähnlich.
»Man muss ja nicht immer in Hektik verfallen«, greift Selma das Thema wieder auf. »Ich warte ja auch geduldig, dass das Kaffeewasser kocht, dass es Frühling wird oder dass mein Enkelkind demnächst auf die Welt kommt. Was mich fuchst, ist die lässige Art, mit der man großspurig über meine Zeit verfügt, als gälte sie nichts.«
Da hat sie recht! »Jetzt zitiere ich auch einmal einen fernöstlichen Spruch«, fällt Selma plötzlich ein. »Der kommt aus Japan und heißt: ›Geduld ist die Kunst, nur langsam wütend zu werden.‹« – »Gut, und dann?« – »Dann geht es den Zeitdieben an den Kragen!« Ha! Wenn sie das macht, würde ich gern dabei sein!

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