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Unter dem Seniorenstrich

aaa-vignette Hello All, ich halte mich nicht für kleinlich. Mit den Jahren eher lockerer geworden, dachte ich. Doch jetzt fehlen mir 4 cm, aufs Schmerzlichste. Unwiederbringlich weggeschmolzene 4 cm, gestohlen vom Altern. Am Rahmen unserer Küchentür verwittern einige waagrechte Bleistiftstriche. In der Mitte einer mit „Papa, 9/ 88.“ Das war die Messlatte für die heranwachsenden Kinder beim Einzug 1988. Der Seniorenstrich, mit Markierungen späterer Jahre bis zu einer guten Handbreit darüber. Die Söhne waren mir über den Kopf gewachsen. Gut so. Doch jetzt der Schreck: Beim Familientreffen letzter Woche stellte mich der Jüngste erneut an die Messlatte. Es fehlen 4 cm zu meinem Eichstrich vor 28 Jahren. Es könnte bei weniger wohlwollender Vermessung sogar auf ein Defizit von 4,5 cm hinauslaufen. Der jüngste Sohn, Inhaber des obersten Strichs, lachte; der ältere Sohn mit dem etwas niedrigerem Pegelstand 1988 schmunzelte, fast zufrieden, schien mir; die allwissende Ehefrau zeigte sich weder überrascht noch ausreichend mitfühlend. Ich tat mir so was von leid! Weidwund getroffen von der unerbittlichen Faktenlage, dokumentiert durch die winzige Bleistiftmarkierung „Papa 6/16“. Der neue Strich blitzt nun jedes Mal gehässig auf, wenn ich durch die Küchentür gehe und verdirbt mir die Laune, wenn schon nicht den Appetit. Nein, ich hatte es nicht bemerkt, wie sich in den letzten Jahren mein physiognomisch bedingter Azimut abgesenkt hatte. Meine zweite Hälfte des Himmels hatte ihre diesbezügliche Beobachtung weise bis dahin für sich behalten: Der Kerl wird kleiner. Also, ich habe kein Problem mit kahler am Kopf, vergesslicher, schmäler, faltiger, schneller müde, mehr Pigmentflecken – alles irgendwie eingepreist in der Selbstwahrnehmung als selbsternannter Oldie. Aber kürzer, kleiner, weniger, irgendwie geschrumpelt nach Schema „Rosine“ – autsch. Seitdem hat der Begriff „unterm Strich“ bei mir einen unangenehmen Beigeschmack. Fast noch schlimmer als „auf dem Strich“, das macht für irgendjemanden zumindest noch Sinn. Aber sich unter den Strich Schrumpeln? Völlig sinnlos; hat niemand was davon. Wird gestrichen, der Strich. Davon laufen kann ich nicht vor dem Gemessenen; aber beim zeitweisen Tapetenwechsel sehe ich diesen Bleistiftstrich nicht mehr, der mich an der Küchentür verhöhnt oder gemahnt, Realist zu bleiben. Wo ich doch so gerne den putzmunteren, was soll’s mit dem Altern,
Ihren Global Oldie, zum besten gebe.

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