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Martin Obschonka erforscht den Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der sogenannten “German Angst”. Foto: Jörg Pütz

Hat die traumatische Erfahrung der schweren Luftangriffe auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg in der Bevölkerung ein besonderes Angst- und Depressionsempfinden verankert? Dieser Frage sind in einer Studie jetzt internationale Forscher um den Psychologen Martin Obschonka nachgegangen.

Bald gibt es keine Rente mehr, der demografische Wandel wird Deutschland in die Knie zwingen … Den Deutschen wird gerne ein grundlegender Pessimismus und eine existenzielle Zukunftsangst nachgesagt, die im Ausland als „German Angst“ sogar mit einem feststehenden Begriff geadelt wird. Doch eingehend wissenschaftlich untersucht hat die „German Angst“ noch niemand. Psychologen um Martin Obschonka, ehemals Juniorprofessor für Gründungs- und Innovationspsychologie an der Universität des Saarlandes und nun Associate Professor an der Queensland University of Technology in Brisbane/Australien haben nun die erste größere Studie vorgelegt, die das Phänomen „German Angst“ unter bestimmten Gesichtspunkten untersucht.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges lagen viele deutsche Städte in Schutt und Asche, zerstört durch eine alliierte Bombenstrategie, die vor allem die Moral der deutschen Bevölkerung nachhaltig treffen sollte. In ihrer Studie gingen die Forscher nun der These nach, dass „German Angst“ aus den Erfahrungen des Bombenkrieges im Zweiten Weltkrieg entstanden sein könnte. Die traumatisierenden Erfahrungen in den Bombennächten und die Zerstörung ganzer Städte könnten zu einer ängstlichen und skeptischen Grundhaltung geführt haben, die über epigenetische Prozesse an die Nachfahren weitergegeben werden könnte.

Um herauszufinden, ob die These stimmt oder nicht, haben die Forscher zweierlei Datensätze miteinander in Beziehung gesetzt: Zum einen haben sie sich angeschaut, welche deutschen Städte in welchem Ausmaß von Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Als zweite Grundlage haben sie aus einem weltweiten Datenpool rund 187.000 Deutsche herausgefiltert und sie mit Personen aus 109 Ländern hinsichtlich des Persönlichkeitsmerkmals „Neurotizismus“ verglichen. Neurotizismus ist in der Psychologie dasjenige Merkmal, das der „German Angst“ am ehesten entspricht. Menschen, bei denen Neurotizismus besonders ausgeprägt ist, neigen zur allgemeinen Besorgnis und sind eher unzufrieden, ängstlich und launenhaft.

Die deutschen Teilnehmer hatten im weltweiten Vergleich selbsteingeschätzter Persönlichkeitsmerkmale allerdings nicht die höchsten Neurotizismus-Werte. Zwar bewegen sich die Deutschen im Datenpool im oberen Drittel, was ihren Neurotizismus und verwandte Persönlichkeitsmerkmale wie Ängstlichkeit angeht. Aber einen tatsächlich verstärkten Effekt, der sich als spezifische „German Angst“ niederschlägt, haben die Forscher in diesem Zusammenhang nicht feststellen können. Eine wesentliche Limitation dieses globalen Vergleiches war es aber, dass der Persönlichkeitsfragebogen nur in vier Sprachen verfügbar war (Englisch, Deutsch, Spanisch, Niederländisch).

Besonders interessant und robust sind hingegen die Befunde, die die Daten zum Zusammenhang zwischen den traumatischen Erfahrungen des Bombenkrieges und heutigem Neurotizismus lieferten. Dafür haben die Wissenschaftler diejenigen rund 33.500 Personen im psychologischen Datensatz herausgefiltert, die in 89 deutschen Städten leben, um so die regionalen Neurotizismuswerte dieser Städte heute zu vergleichen. Zudem wurden mittels Krankenkassendaten regionale Prävalenzen psychischer Störungen wie Depressionserkrankungen untersucht. Die regionalen psychologischen Unterschiede wurden dann mit der Intensität der Bombardements dieser Städte (Anteil an zerstörtem Wohnraum und Kubikmeter an Trümmern in 1945) in Verbindung gestellt. Die Forscher hatten ursprünglich damit gerechnet, dass in den besonders zerstörten Städten die Menschen heute stärker zum Neurotizismus und klinisch-psychologischen Auffälligkeiten neigen. Epigenetische Forschung weist darauf hin, dass sich traumatische Erlebnisse tief festsetzen können und an nächste Generationen weitervererbt werden. Zudem sind bebombte Städte bis heute der Bedrohung Tausender noch aktiver Blindgänger ausgesetzt.

Zur Überraschung der Forscher zeigte sich jedoch, dass die schwerer zerstörten Städte heute eine bemerkenswerte seelische Widerstandsfähigkeit (psychologische Resilienz) aufweisen. „Am Ende haben wir herausgefunden, dass die Bevölkerung in den Städten, die stark zerbombt wurden, heute im Schnitt weniger, und nicht mehr neurotische Persönlichkeitsmerkmale aufweist als die Bevölkerung der Städte, die damals weniger zerstört wurden. Dies fand sich zum Bespiel in Bezug auf regionale Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen wie trübsinnig, mürrisch und launenhaft“, erklärt Martin Obschonka.

Ebenfalls eine bemerkenswerte Korrelation: Die Daten legen nahe, dass eine Region, die heute mit einer starken aktuellen Belastung konfrontiert ist (zum Beispiel starke wirtschaftliche Probleme in der Region und damit einhergehende Abwärtstrends in der regionalen Wirtschaftskraft), dann vor höheren Neurotizmuswerten (zum Beispiel Ängstlichkeit und Depressivität) und depressiven Erkrankungen besonders geschützt ist, wenn die Region eine stärkere Bebombung und Zerstörung im Zweiten Weltkrieg verkraften musste. „Es ist möglicherweise so, dass besonders traumatische Erfahrungen des Bombenkriegs die regionale Mentalität auf die Dauer widerstandsfähiger gemacht haben“, meint Michael Stützer, Koautor der Studie. Damit decken sich diese Befunde mit ähnlicher Forschung zu psychologischen Folgen des Terrorangriffs vom 11. November 2001. Auch dort fand man Hinweise auf deutliche psychologische Resilienz bei den New Yorkern in Folge der traumatischen Erfahrungen.

Die in der aktuellen Studie gefundenen Zusammenhänge bieten Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten. Zum einen könnte die These überprüft werden, ob eine besonders große Zerstörung und damit einhergehend die größere Notwendigkeit zum Wiederaufbau, zum Anpacken und Zusammenhalten dazu führt, dass die Bevölkerung resilienter, also widerstandsfähiger gegen neurotische Persönlichkeitsausprägungen und depressive Erkrankungen, wird. Auch könnte systematischer Zuzug in bestimmte Regionen die Ergebnisse miterklären. Allerdings fanden die Autoren keine Hinweise dafür, dass Zuzug von Kriegsvertriebenen oder Gastarbeitern die Ergebnisse beeinflusst haben.

Die Studie ist in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „European Journal of Personality“ erschienen.

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