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Was, ist schon wieder Silvester? Foto: Marcel Mooij – fotolia.com
Glaubt man Maya-Prophezeiungen, endet die Welt am 21. Dezember 2012. Ohne Welt gibt es aber auch keine Zeit. Warum also sollen wir uns darüber Gedanken machen? Vielleicht ist immerhin die Frage relevant, warum derartige Phantasien vom Weltende immer wieder Konjunktur haben.
Prof. Frieder Lang, der an der Universität Erlangen-Nürnberg den Lehrstuhl für Psychogerontologie innehat, gibt auf diese Frage eine überraschende Antwort: »Die Vorstellung vom Weltende lässt alle Menschen sich gleich alt fühlen.« Wenn alle am selben Tag untergehen, wird jedenfalls keiner älter. Solche Ideen haben wohl mit einer großen Sehnsucht nach Gerechtigkeit zu tun, wie sie sich in all den Visionen vom Weltgericht ausdrückt.
Langs Aussage deutet allerdings wieder auf den Zusammenhang von Alter und Zeitgefühl hin. Zeit ist ein Problem der Philosophen, eine Maßeinheit der Physiker und eine Erfahrung der Menschen. »Als einziges von allen Lebewesen hat der Mensch Wissen über die Zukunft«, sagt Frieder Lang. »Nur er kann auch seine Begrenztheit erkennen.« Es ist wohl dieses Phänomen, das die Zeit im Alter zu einem immer knapperen Gut macht. In der Jugend haben wir alle ein bisschen das Gefühl von Unsterblichkeit. Im Alter denken die meisten zwangsläufig auf den Tod hin.
Der Abgabetermin rückt näher
Er rückt objektiv näher. Und er wird mich schließlich daran hindern, alle meine Bücher noch zu lesen. Knappe Güter sind (uns) besonders teuer. Ob es daran liegt, dass die Zeit uns im Alter zunehmend zu fehlen scheint? Viele Alte haben das Gefühl, dass sie immer schneller vergeht. Aber das Gefühl kennen wir schon aus der Jugend. Wenn man lange mit der Abgabe einer Hausarbeit getrödelt hat, hat man plötzlich gar keine Zeit mehr, wenn der Termin bevorsteht. Im Alter rückt dann der Abgabetermin für das Leben immer näher. Hinzu kommt ein weiteres Phänomen des subjektiven Zeitempfindens. Die Vergangenheit scheint auf einmal ganz schnell vergangen zu sein. Das war doch erst gestern, meinen wir. Doch das Ereignis, an das wir uns erinnern, ist schon ein paar Jahre her.
Solche Zeitgefühle zu vermessen, ist auch eine Aufgabe von Psychogerontologen. Ganz eindeutig sind ihre Messergebnisse bisher allerdings nicht. Frieder Lang verweist darauf, dass man sich – je älter man wird – die Frage »Wie lange habe ich schon gelebt?« (und damit: »Was habe ich schon erlebt?«) unter dem Aspekt stellt: »Wie lange habe ich noch Zeit?« Vielleicht rafft diese Aussicht auf eine verkürzte Zukunft in der Erinnerung die erlebte Vergangenheit.
Hier weist Frieder Lang auf eindeutige Ergebnisse seiner Forschungen hin. »Alter kann nicht nur erklärt werden als eine Degeneration von physiologischen Prozessen«, sagt er. »Altern kann bedeuten, Weisheit zu erfahren. Diese Weisheit besteht auch aus dem Wissen um eine Zukunft, die über das eigene Leben hinausreicht. Man nennt dies: transformationale Zukunftsperspektive. Ganz praktisch drückt sich das darin aus, dass die Alten für die Jungen vorsorgen. Junge Menschen sparen, um zu konsumieren oder für die eigene Zukunft. Alte Menschen dagegen sparen häufig für die nachkommenden Generationen. Deswegen läuft auch die gegenwärtige Diskussion um die Rente falsch. Die Alten erfüllen ihren Generationenvertrag nämlich meist noch in hohem Umfang. Ihr Vermögen fließt auf vielen Wegen zu den Jungen.«
Über sich hinausdenken – das können vor allem die Alten. Sie wissen, dass die Zeit auch ohne sie weitergehen wird. Das ist ein Teil der Altersweisheit. Wenn da von »transformational« die Rede ist, fällt einem sofort der Begriff Trans-zendenz ein. Fast alle Religionen stellen den Menschen Perspektiven über den Tod hinaus zur Verfügung. Sie versprechen irgendwie eine Fort-existenz jenseits der letzten Grenze, eröffnen ein frommes Zeitkonto nach dem Finale. Das scheint immerhin Auswirkungen auf die »physiologische Degeneration« zu haben. »Einige Befunde zeigen, dass religiöse und spirituelle Menschen länger leben als andere«, resümiert Frieder Lang.
»Iss dein Brot und trink deinen Wein«
Wir kommen trotzdem nicht um diese Degeneration herum. Und womöglich hat auch sie etwas mit dem Zeitempfinden im Alter zu tun. Unsere Muskeln werden weniger belastbar. Unsere Kräfte schwinden. Die Treppe zur Wohnung wird plötzlich immer höher, der Weg zum Bäcker immer weiter. So hoch oder weit waren sie in der Kindheit schon einmal. Jetzt erwecken sie wieder den Eindruck, zu ihrer Bewältigung mehr Zeit zu erfordern. Zeit und Raum stehen eben in engster Verbindung. Die Lebenserfahrung des alten Menschen trifft sich mit der Erkenntnis des Physikers.
Was bleibt zu tun? Silvester steht bevor, und ganz kurz wird man die Gläser wieder auf den Zeitbruch im Jahreswechsel heben. Die Jungen sind dann voller Pläne, und die Alten denken darüber nach, ob sie beim nächsten Jahreswechsel noch da sein werden. In der Jugend könnte solches Bewusstsein einer begrenzten Frist zur Hektik verführen. Im Alter ist es für viele eher Anlass zur Gelassenheit. Die Zeit wird sowieso vergehen. Das Motto, um sie zu erfahren und zu durchmessen, kann man der Bibel entnehmen. Es steht im Buch Prediger: »Darum iss dein Brot und trink deinen Wein und sei fröhlich dabei… Nutze alle Möglichkeiten, die sich dir bieten; denn du bist unterwegs zu dem Ort, von dem keiner wiederkehrt.«
Herbert Heinzelmann

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